Ausgerechnet das beschauliche Städtchen Weimar wird 1919 zum Zentrum der deutschen Politik. Während die einen den Umzug des Reichstags und der Regierung als Flucht deuten, rühmen die anderen den Geist der Klassikerstadt. Was auch immer die Gründe waren, in Weimar wird damals Außergewöhnliches vollbracht. Das Erbe der Weimarer Zeit hat bis heute Bestand.
Die weiblichen Mitglieder des Zentrum lassen sich hier fotografieren. Vor allem bei sozialen Themen bringen sich die Frauen in die Debatten ein. Die Stimme, die hier zu hören ist, gehört Marie Juchacz. Sie ist Abgeordnete der SPD und die erste Frau, die eine Rede vor einem deutschen Parlament hält.
Sensationell ist die erste deutsche Luftlinie zwischen Weimar und Berlin. In zwei Stunden werden die aktuellsten Zeitungen, wichtige Briefe und sogar Flugpassagiere in die Hauptstadt und zurück befördert. Auch die Landwege werden ausgebaut, täglich verkehren Parlamentszüge und das Straßennetz in Weimar wird modernisiert.
Das Weimarer Nationaltheater bietet die Bühne für die Abgeordneten. In Windeseile wird es umgebaut: Die Sitzreihen im Parterre werden durch Gänge für die einzelnen Fraktionen unterbrochen, für das Präsidium werden die Stühle aufwändig von Berlin nach Weimar transportiert. Das Foyer wird zum Pausenraum. Viele Nebenräume dienen zu Besprechungen, aber auch als Bibliotheks- und Leseräume.
Für die nationale und internationale Presse wird der gesamte zweite Rang reserviert. Die Garderoben in den Rängen werden zu Telefonzellen umgebaut, damit Journalisten von dort aus schnell ihre Nachrichten an ihre Redaktionen übermitteln können. Die Platzkarten für Zuschauer sind heiß begehrt. Für sie ist der erste und dritte Rang vorgesehen.
Die Aula einer Mädchenoberschule wird zum Telegrafenamt, in dem zahllose elektromagnetische Telegrafiergeräte gleichzeitig rattern. 423 Abgeordnete, Angehörige des diplomatischen Korps und zahllose Journalisten müssen telefonieren, Telegramme verschicken oder die neuesten Meldungen aus Berlin erhalten. Für Journalisten werden im Sonderpostamt im Theater Fernsprechanlagen bereitgestellt.
Die Nationalversammlung in Weimar steht von Beginn an im Interesse der internationalen Öffentlichkeit. Hier sind einige Vertreter ausländischer Zeitungen vor dem Theater abgebildet. Die meisten sind noch misstrauisch gegenüber dem demokratischen Eifer der Deutschen. Noch vor kurzem war Deutschland ein obrigkeitshöriger Kriegsgegner.
Weimar gleicht einer Hochsicherheitszone: 7.000 Freikorpssoldaten sind in der Stadt. Sie sollen die Reichsregierung beschützen und für Ruhe und Ordnung sorgen. Um „unerwünschte Demonstrationszüge aufzuhalten“ stehen am Theater drei Kompanien, die rund um das Gebäude unauffällig Maschinengewehre aufgestellt haben. Sie haben den Befehl, im Notfall die Eingänge des Theaters unter Beschuss zu nehmen. Auch eine Fliegerabteilung zählt zum Freiwilligen Landesjägerkorps mit zehn Aufklärungs- und fünf Kampfflugzeugen.
Während der 197 Tage Weimarer Nationalversammlung müssen sich die Bewohner der Stadt ständigen Passkontrollen stellen. Der Schutz der Nationalversammlung beginnt an den Toren der Stadt und geht bis vor die einzelnen Gebäude, die von der Regierung und den Abgeordneten genutzt werden.
Auch das ist Weimar während dieser Zeit: Reichspräsident Ebert spaziert mit seiner Frau durch den winterlichen Park an der Ilm. In Berlin wäre solch Spaziergang undenkbar gewesen. Die meisten Regierungsmitglieder und Abgeordneten lassen ihre Ehepartner allerdings zu Hause. So bleibt mehr Zeit für die Arbeit.
Weimar ist eine kleine Stadt, da bleibt es nicht aus, dass man sich nach getaner Arbeit im Wirtshaus wiedertrifft. Zuweilen entwickeln sich sogar enge soziale Kontakte zwischen politischen Gegnern. Eine Berliner Zeitung kommentiert hierzu: „Unterschiedslos sind die verschiedenen Fraktionen im Bunde mit den Journalisten bemüht, die Weinvorräte der Stadt zu vertilgen - der Genius Loci Weimars ist feucht.“
„Ungeheuer groß sind die Gefahren, die unser deutsches Vaterland bedrohen, ungeheuer groß ist die Aufgabe, aus all diesen Nöten das deutsche Volk zu retten.“ Mit diesen Worten eröffnet Friedrich Ebert die Nationalversammlung am 6. Februar 1919. In der Tat: Vor den Parlamentariern liegt ein Berg von Aufgaben. Die größte ist die Schaffung einer Verfassung.
Für die Abgeordneten ist die Weimarer Zeit vor allem eines: arbeitsreich! Die Nationalversammlung tritt meist zweimal täglich zusammen und arbeitet dann bis in die Abend- und Nachtstunden hinein. Hinzu kommen Kommissions- und Fraktionssitzungen. Viele haben auch zuhause noch Ämter oder Mandate. Sie pendeln zwischen Weimar und ihren Heimatorten.
Die Fraktion der Deutschen Demokratischen Partei erholt sich beim Mittagsmahl von einem anstrengenden Vormittag. Vereinzelt sind auch Damen am Tisch zu sehen. Bei ihnen handelt es sich nicht um Ehefrauen von Abgeordneten, sondern um gewählte Parlamentarierinnen. Ein echtes Novum in einem deutschen Parlament.
Die Arbeit in der Nationalversammlung ist größtenteils produktiv und zielgerichtet. Unter anderem, weil die republikfreundlichen Parteien der Weimarer Koalition eine solide Mehrheit haben. Trotzdem kochen zuweilen die Emotionen hoch. Wie hier in der Tonaufnahme über die Beratungen zum Versailler Vertrag zu hören ist.
Kein beruhigender Anblick ist dieser Koloss aus Stahl. Doch in der Hauptstadt Berlin gehören Bewaffnete zum Straßenbild. Die Metropole ist denkbar aufgewühlt. Immer wieder gibt es Aufstände und Unruhen. Wenige Tage nach der Wahl zur Nationalversammlung steht die Entscheidung fest: Umzugs- statt Tankwagen ist die Devise!
Auf dieser Karikatur zeigen sich die Musen wenig erfreut darüber und fliehen vor den „bärigen“ Teufeln in Schwarz-Rot-Gold. Tatsächlich wird der Parlamentsumzug auch kritisch gesehen. Viele sprechen gar von einer Flucht der Abgeordneten in die beschauliche Provinz.
Am 6. Februar 1919 nimmt die Nationalversammlung in Weimar ihre Arbeit auf. Für die Parlamentarier ist Weimar das Gegenteil zur Hauptstadt. Auf der einen Seite das pulsierende und zugleich politisch unberechenbare Berlin. Auf der anderen Seite die idyllische Kleinstadt, in der jeder jeden kennt und der Geist der großen Philosophen und Dichter die Bildungsbürger selbstbewusst macht.
So idyllisch wie Weimar auf dieser Postkarte aussieht, war es Anfang 1919 sicherlich nicht. Der Erste Weltkrieg hat bei den Bewohnern der Stadt tiefe Spuren hinterlassen. Als Residenzstadt lebt Weimar vom Hof und der Verwaltung des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. Mit der Revolution kam das Ende der Monarchie. Die Vertreter der Nationalversammlung werden deshalb mit gemischten Gefühlen empfangen.
Die Abgeordneten haben die Wahl, in einem der Hotels der Stadt zu übernachten oder in Privatunterkünften unterzukommen. Der Anreiz für die Weimarer, ein Zimmer zu vermieten, ist groß: So erhalten sie mehr Kohle zugeteilt, als ihnen per Kohlenkarte zusteht. Auch die zugelöteten Gasbadeöfen werden wieder geöffnet, wenn sie einen Abgeordneten bei sich aufnehmen. Den Luxus eines warmen Bades erträumt sich manch ein Weimarer zu jener Zeit.
Ab dem 5. Februar dürfen nur noch Personen, die eine zuvor erteilte Einreiseerlaubnis erhalten haben, die Stadt betreten. Nicht der direkteste Weg für einen Händler, der auf dem Weimarer Markt nur seine Gurken verkaufen möchte. Der Passzwang führt zunehmend zum Unmut der Weimarer Bevölkerung, deren Alltagsleben dadurch erheblich erschwert wird.
Ursprünglich sollten es zwei Monate werden. Am Ende werden es über sechs. Reichspräsident Ebert zeigt sich zum Abschied der Stadt gegenüber erkenntlich: In seinem Dankesschreiben an die Stadtverwaltung betont er die genossene Gastfreundschaft. Die Weimarer sind erleichtert, als die Nationalversammlung Ende August 1919 zurück nach Berlin geht. Die militärische Absperrung der Stadt, die Wohnungsnot und die Lebensmittelknappheit haben die Gastfreundschaft der Bewohner stark auf die Probe gestellt.
An den deutschen Dichterfürsten kommt in Weimar keiner vorbei. Auch die Nationalversammlung beschwört den Geist von Weimar und sieht sich in der Tradition von Klassik und Humanismus. Hier stehen drei Parlamentarier andächtig in Goethes Wohnhaus.
Eduard David, nach seiner Wahl zum Präsidenten der Weimarer Nationalversammlung am 7. Februar 1919
Der Friedensvertrag von Versailles, wie er der deutschen Delegation vorgelegt wird, ist ein Schock: Deutschland soll die alleinige Kriegsschuld akzeptieren, umfangreiche Gebietsabtretungen hinnehmen, das Militär weitgehend entwaffnen und Reparationszahlungen leisten. In welcher Höhe soll später festgelegt werden. Friedrich Ebert hält den Entwurf für die deutsche Seite als „unerfüllbar, unerträglich und unannehmbar“.
In drei Sonderzügen reist die deutsche Delegation Ende April in die französische Hauptstadt, um die Friedensbedingungen entgegen zunehmen. Durch die zerstörten Gebiete fahren die Züge im Schritttempo auf Anordnung der französischen Regierung. Der deutschen Delegation sollen die Verheerungen des Krieges in all ihrer Drastik vor Augen geführt werden.
Nach zähem Ringen stimmt schließlich eine Mehrheit in der Nationalversammlung für die Unterzeichnung des Vertrages. Die Gegenseite lässt nicht mit sich verhandeln. Der Vertrag ist ein Diktat. Zur Unterzeichnung in Versailles bringen die Deutschen ihre eigenen Füllfederhalter mit. Sie wollen nicht mit französischer Tinte ihren Namen auf den schmachvollen Friedensvertrag setzen.