Kinder gelten im Kaiserreich als begriffsstutzig, egoistisch und zerstörungswütig. Mit Strenge sollen sie deshalb zu folgsamen Untertanen erzogen werden. Durch Kriegsspielzeug ist militärische Disziplin Teil des kindlichen Spiels. Psychischer Druck und die Prügelstrafe gehören zum Schulalltag.
Reformpädagogen sehen in Kindern jedoch gutwillige, lernfreudige und ernst zu nehmende Wesen. Theorien zur kindnahen Erziehung gibt es schon seit dem 18. Jahrhundert, zum Beispiel von Jean-Jacques Rousseau, Johann Heinrich Pestalozzi, Friedrich Fröbel und Ellen Key. Doch erst in der Weimarer Republik werden sie ausprobiert.
Alle Richtungen der Reformbewegung wollen die demütigenden und gewaltbestimmten Erziehungsmethoden des Kaiserreichs überwinden. Wie genau das gehen soll, darüber scheiden sich die Geister.
Fragen zu stellen ist für alle Kinder völlig natürlich, davon ist der Reformpädagoge Berthold Otto überzeugt. Deshalb setzt er sich dafür ein, dass in der Familie und der Schule Fragen ernst genommen werden – nur so könne Unterricht auf natürliche Weise stattfinden. Für Otto beginnt Bildung schon in der Familie.
So denken die Anhänger der Landheimbewegung mit ihrem Vordenker Gustav Wyneken. Im Gegensatz zu Berthold Otto und in Anlehnung an Rousseau wollen sie die Kinder in geschützter Atmosphäre ohne den Einfluss der Eltern erziehen. Die Internate sind auf dem Land angesiedelt, auch um die Kinder vom angeblich schlechten Einfluss der Großstädte fernzuhalten.
Die Anhänger der Arbeitsschulbewegung finden, dass leichte Arbeit wie beispielsweise Handarbeit die Kinder selbständiger, ergebnisorientiert und einsichtiger macht – alles Eigenschaften, die ein Staatsbürger brauche. Dahinter steht der sozialistische Gedanke, dass erfüllende Arbeit den Menschen sich selbst näher bringt und damit glücklicher macht.
Viele verschiedene Forderungen sind Teil des Konzepts der Jenaplanschule von Peter Petersen und werden seit den 1920er Jahren umgesetzt. Wichtigstes Ziel ist, die Kinder durch selbsttätiges Arbeiten, gemeinschaftliches Zusammenarbeiten und Mitverantwortung in ihrer Individualität zu fördern und zu starken Persönlichkeiten zu erziehen. Jenaplanschulen gibt es heute überall in Europa.
Auch sie gibt es bis heute: Die Waldorfschule. 1919 wird sie von Rudolf Steiner für Arbeiterkinder in Stuttgart eröffnet. Auch Steiner will die Kinder ganzheitlich und nach ihren Neigungen erziehen – sie also nicht einfach zu reinen Wissensmaschinen ausbilden. Heute gibt es auf der Welt über 1000 Waldorfschulen, die meisten davon in Deutschland, den USA und den Niederlanden.
Aber wie bei so vielen Experimenten drohen auch bedenkliche Entwicklungen. Manche der reformpädagogischen Ansätze wurden und werden von völkischen, antidemokratischen Denkrichtungen unterwandert und instrumentalisiert. Und auch die Enttabuisierung der kindlichen Sexualität hatte ihre Schattenseiten, die alles andere als zum Wohle der Kinder war. Bild: Odenwaldschule
Dennoch, viele pädagogische Ansätze der Weimarer Zeit haben sich bis heute erhalten: Kindgerechtes und gewaltfreies Unterrichten, die Stärkung der Persönlichkeit und Förderung individueller Fähigkeiten. Und was am wichtigsten ist: Die Erkenntnis, dass pädagogische Konzepte immer wieder neu ausgehandelt und angepasst werden müssen.